Thursday, August 17, 2006

Gottfried Jäger: Bildsystem Fotografie

Im Handbuch "Bildwissenschaften: Disziplinen, Themen, Methoden" von Klaus Sachs-Hombach (2005; Frankfurt a. M.: Suhrkamp) findet sich auch ein Artikel über das Bildsystem Fotografie.
Der Autor geht davon aus, dass sich auf der Grundlage einer einheitlichen TechniK (das Auzeichnen dauerhafter Spuren von elektromagnetischen Strahlen, vorwiegend Licht, auf einem strahlungsempfindlichen Material) eine generatives System differenzierte. Teilsysteme unterscheiden sich dabei hinsichtlich a) Bildmotiv, b) Bildstrategie, c) Bildart, d) Kriterien, e) Funktionsbasen f) Bildmethoden/Bildstil und g) Fotomethoden/Fotostil. Ihr gemeinsamerKern sei aber die "materieller Kern" (sic!) der Technik.
Jäger unterscheidet darauf hin vier evolutionäre Motivphasen des Bildsystems Fotografie, die sich jedoch nicht ablösen, sondern in einer Spannung zueinander stehen.
1. Aneignung

  • Bildmotiv ist die Aneignung der äußeren Wirklichkeit.
  • Bildstrategie ist dabei das Abbilden des Sichtbaren
  • Bildart ist das Abbild bzw. die Ikone
  • Fotoart ist eine berichtende Fotografie
  • relevantes Kriterium ist die Abbildungstreue im Objektbezug
  • Funktionsbasis ist die Ähnlichkeit zwischen Bildzeichen und Bildgegenstand
  • Bildstile sind Sachlichkeit, Gegenständlichkeit und Realismus
  • Fotomethoden sind die Realistische Fotografie, die Sach- und Dokumentarfotografie sowie die Fotoreportage

Im Zentrum steht die Natur als Objekt, die mittels der Selbstaufzeichnung ein getreues Abbild der äußeren Welt herstellen soll. Das Licht ist dabei der aigentliche Agent der Aufzeichnung. Die ersten Reproduktionen von Daguerre und Nicéphore Nièpce waren genau diesem Anspruch verhaftet. Diese Fotos sind Aufnahmen, sie halten die Welt im Detail fest.

So gleich geht's weiter, die Arbeit ruft...

2. Vermittlung

  • Bildmotiv ist die Vermittlung innerer Bilder
  • Bildstrategie ist die Darstellung des Nichtsichtbaren
  • Bildart ist das Sinnbild bzw. das Symbol
  • Fotoart ist eine darstellende Fotografie
  • das relevante Kriterium bildet die Äquivalenz mit dem Subjekt
  • Funktionsbasis ist die Entsprechung zwischen Bildzeichen und Bildbedeutung
  • Bildmethoden/Bildstile sind Verfremdung, Abstraktion und Symbolismus
  • Fotomethoden und Fotostile sind Gestaltende Fotografie, Subjektive Fotografie, Visualistische Fotografie und jegliche Fotoinszenierung

Man wird sich also jetzt bewußt, dass die Fotgrafien inszeniert sind. Portraitfotos und Fotomontagen kommen auf. Wann immer man fragt, was das Bild bedeuten soll, was es enthüllt etc., bewegt man sich auf der Ebene der Vermittlung bzw. kann on Sinnbildern sprechen. Aber während Passfotos etc. ein äußeres Wahrheitsmoment zukommt, beinhalten die Bilder eine innere Wahrheit. Benjamin steht genau auf dieser Schwelle. er erkennt die Dialektik im Stillstand in den Bildern und erkennt die Suhe nach naturgetreuer Fotografie als blaue Blume des Apparats. Seine Forderung, dass durch die Fotografie neue Verhältnisse geschafft werden sollen, wird im dritten Typus von Jäger verfolgt.

3. Schaffung

  • Bildmotiv ist die Schaffung neuer Verhältnisse
  • Bildstrategie ist die Erzeugung von Sichtbarkeit
  • Bildart ist das Strukturbild bzw. Symptome und Indizes
  • Fotoart ist die Erzeugende Fotografie
  • das relevante Kriterium ist die Autonomie im Bildbezug
  • Funktionsbasis ist der Zusammenhang von Bildzeichen und Bildursache
  • Bildmethoden/Bildstile sind Komposition, Konstruktion und Konkretismus
  • Fotomethoden/Fotostile sind die Konkrete Fotografie, Experimentalfotografie, generative Fotografie und Fotokomposition

In dieser Phase werden Fototechniken bewußt angewandt, um andere Sehgewohnheiten zu provozieren oder bewußt Probleme mit den Bildern aufzuwerfen. Damit gewinnt die Fotografie eine utopische, politisch-soziale Dimension. Sie stellt Fragen an die eigenen Techniken. In der Literatur wäre dies wohl der Unterscheid zwischen Kafka und Brecht.

4. Reflexion

  • Bildmotiv ist die Reflexion medialer Realität
  • Bildstrategie ist die Überprüfung von Sichtweisen
  • Bildart ist das Reflexbild (Indexe)
  • Fotoart ist die Analytische Fotografie
  • das relevante Kriterium ist die Selbstreferenz an das eigene Medium
  • Funktionsbasis ist die Identität zwischen Bildzeichen und Bildprozess
  • Bildmethoden/Bildstile sind Analyse, Verifikation und Konzeptualismus
  • Fotomethoden/Fotostile sind Konzeptfotografie, Demonstrative Fotografie, Medienreflexion und Fotorecycling

Im vierten Stadium befinden wir uns also auf der modernen Systemebene. Die Fotografie beobachtet sich selbst. Über den Produktionsprozess hinaus wird nun das Foto selbst zum Objekt der Konstruktion. Dekonstruktive prozesse legen den Konstruktionscharakter der Bilder selbst frei. Während in der dritten Phase das Konstruktionsmoment zum Mittel wird, um bestimmte Sinnbezüge herzustellen, wird nun dieses Verhältnis selbst reflektiert.

Diese vier Teilsysteme des Bildsystems Fotografie sind aber doch zu rationalistisch gedacht. Jäger verbindet diese Phasen stets mit einem Datum und mit exemplarischen Kunstwerken. Obwohl gerade die letzte Phase als soziologische beschrieben werden könnte, weil sie Konstruktionsform und Konstruktionsprozess gelichermaßen berücksichtigt, macht eine solche Typologie, vor allem wenn sie evolutionär präsentiert wird, sich eines einseitigen Rationalismus verdächtig. Die Fotografie wird alle Tage schlauer.
Hier wäre wieder einmal auf die Fortschrittskritik von Walter Benjamin zu verweisen, der in der letzten Phase wohl einen konstruktivierten Naturalismus (konstruktiviert ist hier wie apostrophiert zu lesen) gesehen hätte. Denn die systemtheoretische Perspektive, die sich auf eine operative Objektivität (sie behauptet ja, in ihrer Perspektivierung idelogiefrei zu sein), möchte nun nach Leitdifferenzen (oder nach relevanten Kriterien beobachten).
Nichtsdestotrotz ein brauchbares Schema, um in einem ersten Zugang Fotografien sortieren und entsprechend analysieren zu können.

1 comment:

Daniel Kofahl said...

Wider und für den Fortschritt - ist selbiger nicht aufzuhalten, bewegt sich die Zeit selbst im Kreis nur in eine Richtung. Oder haben wir eine Bremse? Oder gibt es das gesellschaftliche Deja Vu?

Worum es uns gehen muss, ist doch Vergleichspunkte zu finden. Und wir müssen, die Komplexität ist immer noch zu groß, Abstriche machen, Komplexität reduzieren. Im Grunde wird man nur schlauer, wenn man auch wieder etwas dümmer wird - insofern kann fast sagen, bewegen wir uns in drei Richtungen: nach vorne, nach vorne nach vorne und nach vorne nach hinten. Doch drehen wir uns um... wir kennen die Geschichte...